Der erste Urlaub seit Jahren. Eine ganze Woche lang an einem anderen Ort, unter anderen Menschen, ganz ohne Bezug zur Arbeit. Schon nach den ersten Stunden war ich raus aus dem „Loop“: Keine Nachrichten im Fernsehen, keine Schlagzeilen im Internet, keine Abhandlungen in Zeitungen. Der Rest? In kleinsten Dosen.
Aber eben auch raus aus der vertrauten Umgebung. Ich gehöre zu denen, für die Anker, Fixpunkte und Rituale im Alltag eine echte Hilfe im Umgang mit der Depression sind. Zwar ahnte ich, was auf mich zukommen könnte, doch ich schätzte das Restrisiko als beherrschbar ein. Manche Ideen sind überwältigend.
Ich war naiv, vielleicht auch durch Hoffnungen und Wünsche angetrieben, und in Anbetracht des (für meine Verhältnisse) doch relativ langen Zeitraums einfach nicht auf das vorbereitet, was mich erwartete, oder besser gesagt, auf was ich mich mit dem Urlaub, mit der Reise eingelassen hatte.
Aus Angst davor, auch in dieser neuen Umgebung wieder in alte Verhaltensmuster zurückzufallen, machte ich regelmäßig genau die Schritte, vor denen ich mich fürchtete. Ich fühlte mich lebendig, als Durchreisender doch irgendwie angenommen – und angekommen. Es gab menschliche Begegnungen (teils erhoffte, teils zufällige), die dabei halfen, den Fokus der Gedanken deutlich zu verschieben.
Wie ein Ritt auf einer Welle.
Unerwartete Höhen und Tiefen.
Mit einem Strand als Ziel.
Alte oder neue Ufer?
Wieder in der Wohnung angekommen, wurde ich mir meiner Rastlosigkeit, meiner Haltlosigkeit deutlicher als zuvor bewußt. All das Bekannte, all die bald wieder einsetzende Routine, die vielen wohlbekannten Kleinigkeiten waren mit einem Mal nur abgenutzt und leer, einiges erschien mir sogar fremd und abstoßend.
Etwas hatte sich geändert.
Hatte ich mich geändert?
Oder sah ich nur etwas anderes?
Was sah ich, was sehe ich?
Viele sagten oder schrieben bereits, daß Reisen Menschen verändern können, daß Reisen durchaus auch das Potential haben, daß man über sie zu sich selbst finden kann – oder sich selbst eben über sie verliert. Was ich gefunden habe, kann ich nicht in Worte fassen, vielleicht noch nicht.
Es fühlt sich nicht mehr richtig an in dieser Welt, in die ich zurückgekehrt bin, in die ich zurückkehren mußte. Die Welt, aus der ich komme, fühlte sich in der einen Woche, fühlt sich auch jetzt noch richtiger an, als das, was mir so lange Halt, Sicherheit und Geborgenheit bot.
Ich sehe aus dem offenen Fenster, sehe wie sich die Bäume im Wind wiegen, höre das Rauschen des sommergetrockneten Laubes, das sich noch nicht von den Ästen löst, noch nicht lösen kann. Es ist ein warmer Wind, der vor sich hertreibt, was keinen Halt mehr hat.
Der Wind weht nach Nordosten.
Ich kam gegen den Wind zurück.
Nun fühle ich mich als Fremder.
In der Fremde meines Zuhauses.
Die Gedanken steigen auf, einem Drachen gleich, stehen im Wind und steigen höher und höher. Ob sie mich tragen, wenn ich nur genügend von ihnen aufsteigen lasse? Ob sie mich tragen, wenn ich sie nur im Auge behalte und mich an ihnen festhalte? Kann ich anderes loslassen, um mich mitreißen und forttragen zu lassen?
Kann etwas Totes Halt geben, auf Dauer ein Anker sein? Ich sehe mich um, fühle hin, und was mir noch vor ein, zwei Wochen eine Angel meiner kleinen Welt war, erscheint nun leblos und morsch. Ich blicke zurück, erinnere mich der kleinen Momente und fühle mich lebendiger. Doch das ist alles dort – nicht hier, nicht bei mir.
Akzeptieren, verändern oder verlassen. Dem plötzlich verlorengegangene Halt nachgeben und treiben lassen? Doch in welche Richtung? Zurück an die Orte, an denen ich mich zuletzt lebendig, willkommen und, ja, angekommen fühlte? Oder hin zu (nicht) gänzlich neuen, doch bisher nie erreichten Gefilden, dem Versprechen folgend, daß dann wirklich alles zurück bleibt?
Den ultimativen Schritt wagen.
Enge und Zwänge verlassen.
Das braucht Mut – und Freiheit.
Das braucht etwas, das fehlt.
Dann also doch viele kleine Schritte, einer nach dem anderen, um zwar zu verlassen, was nicht verändert und nicht mehr akzeptiert werden kann, und dabei doch nur so weit gehen, daß da wieder etwas wie Leben ist – sich auf Menschen einlassen, die Halt und Zuversicht allein dadurch geben, daß es sie gibt, allein dadurch, daß sie da sind.
Den Gefühlen der Haltlosigkeit und der Rastlosigkeit durch Veränderung begegnen. Vielleicht etwas, das beinahe schon überfällig ist, wenn ich zu mir selbst ehrlich bin und auf meine inneren Stimmen höre. Nur etwas mehr Mut, um ein etwas größeres Risiko einzugehen. Ab und zu muß man ein Risiko eingehen.
Und vielleicht ist da sogar tatsächlich…
Eine Hand.
Ein Mensch.
Ein Leben.
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