Aus dem Licht

Am Wochenende habe ich sie wieder einmal gesehen, wieder einmal besucht, die beiden Menschen, für die ich einmal, wenn auch nur für kurze Zeit, wirklich relevant sein werde. Nach und nach bleiben keine Nachbarn, neben denen sie die längste Zeit ihres Lebens gewohnt haben, und auch keine Geschwister, zu denen sie Kontakt zu halten versuchten, übrig. Was bleibt, bin ich.

Es ist nur eine Frage der Zeit. In einigen Jahren werden sie deutlich mehr Hilfe und Aufmerksamkeit benötigen, als dies vielleicht heute der Fall ist, und sicher auch mehr, als sie offen aussprechen werden. Doch sie werden Hilfe brauchen, vielleicht sogar auf unbestimmte Zeit Pflege – doch das wird die Zeit zeigen.

Und irgendwann wird der Tag kommen, an dem der eine den anderen wird verlassen müssen, und der, welcher zurück bleibt, wird ein Leben kennenlernen, welches ihm in dieser Form, die es dann erhalten wird, vollkommen fremd ist. 40 Jahre, die man miteinander verbrachte, mehr oder minder gemeinsam, auf jeden Fall stets in der Anwesenheit und Nähe des anderen. 40 Jahre, in denen man sich an vieles gewöhnte, in denen man sich aufeinander einstellte.

Für einige Wochen, Monate oder Jahre werde ich dann derjenige sein, der dann noch übrig ist, um für den, der es noch länger aushält, da zu sein. Für eine kurze Zeit werde ich für einen Menschen nochmal eine echte Relevanz bekommen. Es wird eine Herausforderung werden, möglicherweise sogar eine Belastung ungeahnten Ausmaßes, die völlig neue und unbekannte Verpflichtungen mit sich bringt. Doch für eine kurze Zeit werde ich noch einmal für jemanden da sein dürfen, für jemanden wichtig sein.

Doch auch diese Zeit wird vorbei gehen, und mich anschließend in eine ungeahnte Freiheit, vor allem eine ethisch-moralische Freiheit entlassen, die ich kaum noch erwarten kann. Ich sorge mich um „meine Leute“, ich sorge für „meine Leute“, und das wissen diese Menschen, selbst wenn sie es nie offen ansprechen oder einfordern würden. Es wird der Zeitpunkt kommen, ab dem alle „versorgt“ sind, ab dem keiner mehr meine Unterstützung benötigen wird, ab dem ich für niemanden mehr relevant sein werde.

Es gibt Zeiten, in denen ich mir diese Freiheit herbeisehne. Gleichwohl habe ich meine Zweifel, ob ich mit dieser Freiheit werde umgehen können. Freiheit kann ungeahnte Möglichkeiten mit sich bringen, doch meistens fühlt sich die Idee dieser Freiheit für mich wie eine große Leere an, eine durchaus attraktive Leere, in die ich mich ohne Schuldgefühle und ohne Konsequenzen für andere fallen lassen könnte. Dieser Gedanke ist durchaus verlockend, das ihm innewohnende Versprechen der Sicherheit ist verlockend.

Doch noch ist es nicht soweit. Ich habe noch ein paar „meiner Leute“, von denen einige zur Zeit, einige (vielleicht) in nicht allzu ferner Zukunft meine Unterstützung „brauchen“. Für sie möchte ich da sein, ihnen möchte ich ermöglichen zu erreichen, was sie sich wünschen: Ein gutes Leben, das arm an Sorgen, Nöten und Ängsten ist. Wenn ein Weg in Richtung eines solchen Lebens eingeschlagen ist, wenn es nicht mehr in meiner Hand liegt, dann kann ich gehen.

Noch habe ich die Kraft, noch spüre ich, daß ich für einige wenige Menschen relevant bin, relevant sein darf. An dem Tag, an dem dies nicht mehr so ist, an dem ich es nicht mehr spüre, werde ich gehen: unbemerkt aus dem Licht in den Schatten treten, und die Bühne des Lebens so unspektakulär und weitestgehend unbemerkt verlassen, wie ich sie betrat.  Wer mich dann tatsächlich (noch) suchen sollte, wird mich finden, wird mich kennen und wissen, wo nach mir zu suchen sein wird.

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